Genaue Zahlen gibt es natürlich nicht. Schätzungen gehen jedoch davon aus, dass jeden Tag bis zu 130 Tier- und Pflanzenarten aussterben. Schon 1992 wollten die Vereinten Nationen diesem Prozess mit der „Biodiversitäts-Konvention“ entgegentreten. Darin wurde Artenvielfalt auf der Erde als ein erhaltenswerter Zustand anerkannt – an Land und auch im Meer. Biologische Vielfalt ist nicht nur aus ethischen Gründen schützenswert, sondern sie erfüllt auch wichtige Ökosystemfunktionen. Im Meer gehören dazu gesunde und ertragreiche Fischbestände, klares Wasser zum Baden ohne Algenblüten oder auch die Aufnahme von Nährstoffen aus der Landwirtschaft. Allerdings sind diese Zusammenhänge bei Lebensgemeinschaften an Land viel besser untersucht.
Wie wichtig ist die Artenvielfalt für das Funktionieren eines Ökosystems im Meer also genau? Das herauszufinden ist das Ziel von BIO-C3, eines neuen, von der EU finanzierten Forschungsprojektes. Dahinter verbirgt sich ein Konsortium von Meeresforschern aus acht Ostsee-Anrainerstaaten und insgesamt 13 beteiligten Instituten und Universitäten. Die Forscher erhalten im Rahmen des EU-Programms BONUS (Science for a better future of the Baltic Sea region) 4 Millionen Euro. Koordiniert wird das Programm von Professor Thorsten Reusch vom GEOMAR Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung Kiel, in enger Zusammenarbeit mit Professor Fritz Köster von der Danish Technical University (DTU Aqua) in Kopenhagen.
Der Kurztitel BIO-C3 steht für „Biodiversity changes – causes, consequences and management implications“. Um die Bedeutung der Biodiversität für Meeresökosysteme auf die Spur zu kommen, nutzen die beteiligten Wissenschaftler ein natürliches Labor: die Ostsee. „Sie bietet sich als Untersuchungsobjekt geradezu an. Ihre Artenzusammensetzung ist sehr jung, denn unter dem gegenwärtigen Salzgehalt existiert die Ostsee erst seit wenigen tausend Jahren. Gleichzeitig ist sie relativ artenarm, so dass die Konsequenzen von Artenverlust oder aber von der Invasion von Neubürgern sehr viel deutlichere Effekte haben”, erklärt Projektkoordinator Professor Reusch. Damit können derartige Veränderungen auch besser wissenschaftlich untersucht werden, als in sehr artenreichen Gewässern. Ein weiterer Vorteil der Ostsee: Die beteiligten Wissenschaftler können auf zahlreiche Voruntersuchungen und Langzeitdatenserien der beteiligten Institute und Universitäten zurückgreifen, wie zum Beispiel mehrmals jährlich stattfindende Untersuchungen von Fischbeständen, Planktonorganismen und Umweltbedingungen mit Hilfe des Kieler Forschungsschiffs ALKOR oder Studien zur der aus Nordamerika in die Ostsee eingeschleppten Rippenqualle Mnemiopsis leidyi.
Gleichzeitig ist der menschliche Einfluss auf das Ostsee-Ökosystem stärker als in den meisten anderen Meeresregionen, da dieses Randmeer vor allem im Süden und Osten von sehr dicht besiedelten Regionen umgeben ist. „Weiterer Schwerpunkt von BIO-C3 wird es daher sein, die menschlichen Störungen wie Fischfang, Überdüngung aber auch Klimawandel über entsprechende Modellierungen zu gewichten und in ihrer zukünftigen Wichtigkeit zu prognostizieren“, sagt Professor Reusch.
Die biologische Vielfalt, die untersucht werden soll, erstreckt sich dabei auch auf die genetische Vielfalt. Diese könnte wichtig werden, wenn sich wie vorhergesagt die Ostsee weiter aussüßt sowie wärmer und weniger sauerstoffreich wird. „Eine zentrale Frage ist hier, ob sich wichtige Organismen wie Zooplankton und Fische an die veränderten Umweltbedingungen anpassen können“, nennt der Kieler Ökologe eine der zentralen Fragen. Aus dem verbesserten Verständnis der ablaufenden Prozesse werden am Ende in einem synthetischen Teilprojekt Empfehlungen zum besseren Management der baltischen Biodiversität abgeleitet.
Speziell bei den Fragen zur Anpassung an den zu erwartenden Klimawandel arbeiten die Forscher aus dem BIO-C3-Projekt eng mit dem von der Universität Göteborg koordinierten BONUS-Projekt BAMBI (Baltic Sea marine biodiversity– addressing the potential of adaptation to climate change) zusammen, in dessen Rahmen die Marinen Ökologen des GEOMAR ebenfalls ein weiteres Teilprojekt einwerben konnten. „Über diesen Doppelerfolg freuen wir uns ganz besonders, denn nur etwa zehn Prozent der beim BONUS-Programm eingereichten Projekte haben eine Förderempfehlung bekommen”, betont Professor Reusch, der am GEOMAR den Forschungsbereich „Marine Ökologie“ leitet.