"beziehungsweise(n)" lautet der Titel der vierten deutsch-israelischen Literaturtage, zu denen die Heinrich-Böll-Stiftung und das Goethe-Institut vom 25. bis zum 29. April 2012 nach Berlin einladen.
Ausgangspunkt für das Thema beziehungsweise(n) der vierten deutsch-israelischen Literaturtage ist der Beziehungsmikrokosmos der Familie. Welche Bedeutung hat Familie heute, wie eng sind deren Bande gestrickt und welche Familienmodelle haben sich aufgrund des gesellschaftlichen Wandels in beiden Ländern entwickelt?
Sharuz Shalicar ist ehrenamtlich Vorsitzender der Organisation junger deutschsprachiger Einwanderer in Israel (NOAM) und seit Oktober 2009 Pressesprecher der israelischen Armee (IDF)
"In Israel wird man sehr oft und sehr offen auf die eigene Familie angesprochen. Dieses Thema scheint in Israel sehr wichtig", erzählt Projektkoordinator Frank Domhan. "Bei meinen zahlreichen Besuchen in Israel habe ich immer wieder beobachtet, dass das israelische Familienleben einer scheinbaren Strenge unterliegt, die die Familie ordnet und zusammenhält. Diese Strenge hängt natürlich auch mit Traditionen zusammen. Gleichzeitig ist man sehr offen und nimmt Außenstehende recht schnell in diesen Kern auf. Das Verständnis dessen, was nur in den engsten Kreis der Familie gehört und dessen, was viel weiter gesteckt wird, ist ein anderes als in Deutschland."
Verlust und Trennung
An fünf Lese- und Diskussionsabenden werden Autorinnen und Autoren aus Israel und Deutschland sich aus ihrer jeweiligen literarischen und persönlichen Perspektive dem Thema Familie annähern: Sara Shilo und Thomas Hettche diskutieren ausgehend von ihren Romanen Veränderungen im familiären Gefüge, die durch Schicksalsschläge oder durch Trennung ausgelöst werden können. Wie geht die Familie mit dem plötzlichen Tod des Ehemanns und Vaters um? Wie erlebt ein Vater den Entzug des Sorgerechts? Auch die Figuren in Lizzie Dorons und Christopher Kloebles Romanen setzen sich mit der Abwesenheit des Vaters beziehungsweise der Mutter auseinander. Es sind diejenigen Elternteile, die sie nie kennenlernen durften und auf deren Suche sie sich dennoch begeben. Dabei entblättern sich Familiengeschichten und lang gehütete Geheimnisse.
Identität und Migration
Wichtig ist die Geschichte der eigenen persisch-jüdischen Familie auch für den Autor Arye Sharuz Shalicar. Weniger bewusst war er sich jedoch der Bedeutung seiner jüdischen Identität, die erst durch die Konfrontation mit arabischen Mitschülern im Berliner Wedding in den Vordergrund trat und die ihn schließlich nach Israel führte. Dagegen wagt Eshkol Nevo in seinem aktuellen Roman Neuland den literarischen Schritt aus den geografischen Grenzen seiner Heimat Israel heraus. Beide Autoren verbindet die Frage nach Zugehörigkeit und der Beschaffenheit von Heimat.
Die Wechselbeziehung zwischen Migration, neuer Heimat und familiärer Dynamik beschäftigen auch die beiden Nachwuchsautoren Yotam Tolub aus Israel und Olga Grjasnowa, die in Aserbaidschan geboren wurde und nach Stationen in Polen, Russland und Israel heute in Berlin lebt.
"Wenn man gemeinsam in ein anderes Land zieht, dann ist die Familie wie eine Kapsel, die für Beständigkeit sorgt und die hilft, all die äußerlichen Veränderungen zu verdauen", beschreibt Yotam Tolub eigene Kindheitserfahrungen in den USA, wo er mit seiner Familie vorübergehend lebte. In seinem Debütroman erzählt er die Geschichte zweier Geschwister, die sehr unterschiedlich auf den Umzug in ein fremdes Land reagieren. Gleichzeitig verdeutlicht Tolubs Roman, dass Migration an sich ein selbstverständlicher Bestandteil fast jeder Familiengeschichte in Israel ist, und dass israelische Familienbande sich oft über mehrere Kontinente erstrecken. In Deutschland dagegen wird Migration vor allem vor dem Hintergrund von sprachlicher und kultureller Integration von Fremden, die in Deutschland eine Heimat suchen, diskutiert.
Ausnahmezustand
Unmittelbar spürbar werden im israelischen Familienalltag auch die schwelenden politischen Konflikte im Nahen Osten und die tägliche Bedrohung. Die seelische Belastung der Soldaten, die Angst um Angehörige oder sogar deren tragischer Verlust sind ein andauernder Ausnahmezustand. Sie hinterlassen deutliche Spuren im Familienleben, und lassen manche Familien zerbrechen. Auch deutsche Soldaten im Afghanistaneinsatz und deren Familienangehörige stehen vor dieser Zerreißprobe. Amichai Shalev und Dirk Kurbjuweit lesen hierzu aus ihren Romanen.
Beziehungen und Befindlichkeit
Die erste Ausgabe der deutsch-israelischen Literaturtage wurde 2005 im Rahmen des 40. Jahrestages der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen Israel und Deutschland veranstaltet. Damals ging es vor allem um das deutsch-israelische Verhältnis, die wechselseitige Wahrnehmung und die Verarbeitung der Schoah in der jeweiligen Literatur. Neben den Lesungen waren den Veranstaltern von Anfang an die Gespräche zwischen und mit den Autorinnen und Autoren besonders wichtig. Dieser Austausch soll auch 2012 Gelegenheit geben, das jeweils andere Land durch eine sehr persönliche Perspektive des Gegenübers zu entdecken und sich dabei mit den eigenen, vorab existierenden Vorstellungen auseinanderzusetzen. Programm und Titel der Literaturtage 2012 zeigen darüber hinaus, dass es neben der geschichtlichen Aufarbeitung ebenso wichtig geworden ist, sich konkret zu aktuellen gesellschaftspolitischen Themen und Befindlichkeiten beider Länder auszutauschen. Weitere Möglichkeiten hierzu bieten sowohl eine politische Diskussionsrunde zum gesellschaftlichen Verständnis des Sozialstaats als auch eine Filmnacht, in deren Mittelpunkt die israelische Kultserie "Avoda Aravit"[Arab Labour] steht. Sie thematisiert die alltägliche Zerrissenheit einer israelisch-arabischen Familie zwischen der israelischen und der palästinensischen Identität.
Kontakt
Michaela Birk
E-Mail: michaela(at)boellstiftung.org