Eine hohe Verbreitung von Tariftreueregelungen gibt es vor allem in den skandinavischen Ländern Dänemark, Norwegen und Schweden sowie in der Schweiz. In diesen Ländern bildet die Einhaltung der jeweils ortsüblichen Tarifverträge in der Regel die Voraussetzung, um öffentliche Aufträge zu erhalten. In Großbritannien haben sich demgegenüber eine wachsende Anzahl von Städten und Regionen so genannten ‚Living-Wage-Initiativen‘ angeschlossen. Sie haben das Ziel, auf lokaler Ebene angemessene Löhne oberhalb des nationalen gesetzlichen Mindestlohns sicher zu stellen. Unternehmen, die öffentliche Aufträge erhalten, sollen sich hierbei verpflichten, ihre Beschäftigten mindestens zu den jeweils lokalen ‚Living Wages‘ zu entlohnen.
Auch in Deutschland ist es seit einigen Jahren zu einer regelrechten Renaissance von Tariftreue- und Mindestlohnklauseln im Vergabewesen gekommen. Mittelweile haben 11 Bundesländer eigene Tariftreuegesetze verbschiedet, zwei weitere haben entsprechende Gesetzesvorlagen ins Parlament eingebracht, so dass demnächst 13 von 16 Bundesländern über entsprechende Regelungen verfügen. Lediglich in Bayern, Hessen und Sachsen existieren keine Tariftreuegesetze.
Tariftreue- und Mindestlohnklauseln bei öffentlichen Aufträgen sind vor allem in denjenigen europäischen Ländern von Bedeutung, in denen es keine Regelungen zur Allgemeinverbindlicherklärung (AVE) von Tarifverträgen gibt oder in denen die AVE auf wenige Branchen beschränkt ist. Dementsprechend werden in Deutschland Tariftreuevorgaben auch als „kleine AVE“ bezeichnet. In Ländern mit sehr umfassenden AVE-Systemen (wie z.B. in Frankreich oder den Niederlanden) gelten Tarifverträge hingegen in der Regel automatisch auch bei öffentlichen Aufträgen, so dass es keiner speziellen Tariftreuevorgaben bedarf.
Im Hinblick auf die rechtliche Absicherung von Tariftreueregelungen herrsche derzeit innerhalb Europas eine widersprüchliche Situation, konstatiert die Studie: Auf der einen Seite hat der Europäischen Gerichtshof (EuGH) 2008 in seinem so genannten Rüffert-Urteil entschieden, dass Tariftreuevorgaben eine Einschränkung der europäischen Dienstleistungsfreiheit darstellten. Letztere sei nur dann erlaubt ist, wenn sie durch die Europäische Entsenderichtlinie gedeckt ist, was nach Ansicht des EuGH nur bei gesetzlichen Mindestlöhnen und allgemeinverbindlichen Tarifverträgen der Fall ist. Demgegenüber steht die immerhin von zehn EU-Staaten (darunter jedoch nicht von Deutschland) ratifizierte Konvention Nr. 94 der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO), die eine umfassende Tarifreue bei öffentlichen Aufträgen auch im Hinblick auf nicht allgemeinverbindlich erklärte Tarifverträge vorsieht.
Angesicht der aktuellen Diskussion um die Verabschiedung einer neuen Europäischen Vergaberichtlinie ist von den europäischen Gewerkschaften sowie von verschiedenen andern politischen Akteuren hier eine rechtliche Klarstellung gefordert worden. Nach Ansicht des WSI-Vergabeexperten und Hauptautor der Studie, Dr. Thorsten Schulten, macht dabei „das Rüffert-Urteil des EuGH überhaupt keinen Sinn, da es Tariftreuevorgaben nur da zulassen will, wo sie aufgrund allgemeinverbindlicher Tarifverträge sowieso überflüssig sind.“ Deshalb sollte, so Schulten „in der neuen Europäischen Vergaberichtlinie eindeutig festgestellt werden, dass die ILO Konvention Nr. 94 nicht im Widerspruch zum europäischen Vergaberecht steht und dass Vorgaben zur Einhaltung von (auch nicht allgemeinverbindlich erklärten) Tarifverträgen europaweit als legitimes Vergabekriterium anerkannt werden.“
Die Studie
Thorsten Schulten, Kristin Alsos, Pete Burgess, Klaus Pedersen: Pay and other social clauses in European public procurement. An overview on regulation and practices with a focus on Denmark, Germany, Norway, Switzerland and the United Kingdom Studie im Auftrag des Europäischen Gewerkschaftsverbandes für den öffentlichen Dienst (EGÖD). Düsseldorf, Dezember 2012.
Download: http://www.epsu.org/a/9152
Ansprechpartner in der Hans-Böckler-Stiftung
Dr. Thorsten Schulten
WSI-Experte für europäische Tarifpolitik
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Rainer Jung
Leiter Pressestelle
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