Das Wort „illiberal“ lässt sich nach einem westlich geprägten Politikverständnis nur schwer mit einer Demokratie verbinden. Vielmehr gilt individuelle Freiheit heutzutage als ein Grundelement dieser Regierungsform. In einigen Ländern Ostmitteleuropas haben sich hingegen inzwischen Regierungen etabliert, die ganz offensiv eine illiberale Version als eine eigene Spielart der Demokratie propagieren und die jeweiligen Staaten entsprechend verändern – allen voran Polen und Ungarn. Welches Verfassungsverständnis liegt dem zugrunde? Auf welchen Traditionslinien baut es auf? Und was bedeutet das für den gesamten Kontinent?
Antworten auf diese Fragen wollen Osteuropa-Experten der Friedrich-Schiller-Universität Jena gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen von Universitäten in Erfurt, Budapest und Warschau sowie der Tschechischen Akademie der Wissenschaften in Prag erforschen. Die Volkswagenstiftung unterstützt das internationale Projekt „Towards Illiberal Constitutionalism in East Central Europe: Historical Analysis in Comparative and Transnational Perspectives“ im Rahmen ihres Förderangebots „Herausforderungen für Europa“ über die kommenden vier Jahre mit knapp 1,5 Millionen Euro. Neben Historikerinnen und Historikern sind Forschende aus der Soziologie sowie der Rechts- und Politikwissenschaft beteiligt.
Prof. von Puttkamer, Co-Direktor des Imre Kertész Kollegs der Universität Jena, analysiert im Rahmen des Projekts die Vorstellungen von Rechtsstaatlichkeit und einer unabhängigen Justiz kurz nach dem Fall des Eisernen Vorhangs in den ostmitteleuropäischen Ländern. Dabei wirft er insbesondere einen Blick in die Zeit zwischen dem Ersten und Zweiten Weltkrieg, in der sich – ähnlich wie in Deutschland – erste Demokratien entwickelt haben, von denen man früher – in Ungarn bereits 1918 – oder später – in der Tschechoslowakei erst 1938 – wieder abgekehrt ist. Inwieweit diese ersten demokratischen Erfahrungen in die neuen Landesverfassungen und Verfassungspraktiken nach dem Sturz der kommunistischen Regime einflossen und möglicherweise traditionsbildend wirkten, das interessiert Joachim von Puttkamer besonders. Denn für Länder wie Polen, die Tschechische Republik oder Ungarn gibt es dazu bisher kaum Erkenntnisse – erst der Abstand von 30 Jahren, der die Geschehnisse als Teil der jüngsten Zeitgeschichte einordnet, öffnet nun neue Blickwinkel und die Archive.
Eine weitere Fallstudie innerhalb des Projektes beschäftigt sich mit der Ausdeutung von Gesetzlichkeit und Rechtsstaatlichkeit in Polen und in den neuen Bundesländern. Ein Historiker in Erfurt untersucht, wie diese ostmitteleuropäischen Erfahrungen für das Verständnis von Prozessen in der ehemaligen DDR dienen können. Eine ungarische Juristin untersucht aus rechtswissenschaftlicher Perspektive, wie illiberale Praktiken in Ungarn im westeuropäischen Vergleich zusehends Akzeptanz finden. Und von Puttkamers Kollege in Prag erforscht, wie Debatten über Verrechtlichung und Expertentum das eher managementorientierte Verständnis von Demokratie in der Tschechischen Republik geprägt haben.
Das neue Projekt soll insbesondere dazu beitragen, dass sich junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler miteinander vernetzen können, um Forschungen dieser Art in Zukunft auf ein breiteres länderübergreifendes Fundament zu stellen, in dem nicht zuletzt das Imre Kertész Kolleg der Universität Jena eine tragende Rolle einnehmen wird.