StartseiteLänderEuropaFrankreichKlagen über die Verelendung der Forschung in Frankreich

Klagen über die Verelendung der Forschung in Frankreich

Zwei Jahre nach der Basisbefragung im Bereich der Forschung, welche die strukturellen Probleme des französischen Systems offenbart hatte, hat sich die Situation der Forscher nach Ansicht der Zeitschrift „Les Échos“ nicht verbessert, im Gegenteil.

Nach Darstellung der französischen Tageszeitung „Les Échos“ vom 19. Mai 2014 macht sich in Frankreich eine verzweifelte Stimmung unter den jungen Nachwuchsforschern breit, die darüber klagen, dass sich ihre Arbeitsbedingungen in den letzten zwei Jahren trotz tröstender Worte des neuen Forschungsministers Hamon nochmals verschlechtert haben.

Die Situation sei bereits vor zwei Jahren angespannt gewesen. Im Juli 2012 habe die damalige Ministerin für Hochschulen und Forschung, Geneviève Fioraso, die Assises nationales gestartet, eine Befragung der Basis des französischen Forschungssystems nach den strukturellen Problemen, die das System öffentlich verantworteter Forschung in Frankreich blockierten. Rund 100 Anhörungen später erschien ein Bericht, der 135 Vorschläge auflistete, von denen eine ganze Reihe darauf abzielten, die dramatische Verknappung der Finanzierung zu beseitigen. Nach Meinung des damaligen Berichterstatters, Vincent Berger, könne man regelrecht von einer Verarmung der Forschungseinrichtungen und Universitäten sprechen. Seit Vincent Berger inzwischen Berater Präsident Hollandes zu Fragen der Hochschulen und Forschung geworden ist, habe sich die finanzielle Situation der Labors jedoch nicht verbessert – im Gegenteil. Und keines der Ungleichgewichte und Fehlfunktionen, auf die regelmäßig von der Wissenschaftsgemeinde hingewiesen werde, sei bereinigt worden.

In Frankreich haben Forscher zwei Geldquellen für ihre Arbeit: die jährlich, institutionelle Zuweisung von Mittel durch den jeweiligen Betreuer (Forschungseinrichtungen wie CNRS oder Universitäten) und die eingeworbenen Projektmittel, wenn man bei einer Ausschreibung erfolgreich war. Das Problem sei, dass beide Hähne heute nur noch tröpfelten. Die jährlichen Zuweisungen würden seit zehn Jahren immer weniger. Der CNRS-Biologe Etienne Decroly wird zitiert, „das Geld, das wir von unserem Betreuer erhalten, deckt gerade mal zwei Monate der Betriebskosten unseres Labors.“ Und der Vizepräsident der Académie des Sciences, Bernard Meunier ergänzt: „die jährlichen Zuwendungen decken die Kosten für die Bleistifte, falls wir sie nicht zu sehr abnutzen.“ Eine dritte Quelle, wie die Projektförderung des BMBF und seiner Projektträger in Deutschland, gibt es in Frankreich nicht. Allenfalls steht noch der Weg der Projektmittelbeantragung in Brüssel offen.

Im Wesentlichen hängen die Labors also von ihrem Vermögen ab, Projektgelder von den Ausschreibungen der Agence Nationale de la Recherche (ANR) einzuwerben. Deren Budget ist aber von 850 Mio. € in 2008 auf 605 Mio. € in diesem Jahr gesunken, die Zahl der Projekte sei entsprechend geschrumpft, der Wettbewerb um Projektmittel sei mehr als hart. Der Anteil der erfolgreichen Projekte sei so gering (15%), dass ANR in diesem Jahr ein zweistufiges Verfahren eingeführt habe, mit erleichterten Anforderungen für die erste Runde.

Diese Mittel, die den fest angestellten Forschern fehlen, werden noch mehr vermisst, wenn es um die Schaffung neuer Stellen geht. So habe z. B. CNRS, um nur eine Einrichtung zu nennen, vor drei Jahren noch rund 400 Forscher  -  verteilt über alle Disziplinen - eingestellt, in diesem Jahr werden es noch rund 300 sein, und ein weiteres Absinken sei für das kommende Jahr angekündigt. Gleiche Verknappung bei den Universitäten, wo die Liste der einzustellenden Dozenten in fünf Jahren von 2000 auf 1500 gesunken ist.

Besonders betroffen seien die Postdocs: ihre Aufenthalte in diesem Stadium verlängern sich, und das mittlere Alter, in dem ein Postdoc schließlich eine feste Anstellung ergattert, wachse ständig. Ursprünglich waren Postdoc-Aufenthalte von zwei bis drei Jahren in einem Laboratorium oder einem anderen Land dazu angelegt, jungen Wissenschaftlern eine weitere Orientierung für ihre Laufbahn zu ermöglichen; jetzt stellen die Dreißigjährigen ein Heer von Wartenden dar, denen niemand eine Stelle zu bieten habe. Zu diesem Dauerstau käme noch die Kehrseite des Sauvadet-Gesetzes von 2012 hinzu, demzufolge Angestellte, also auch Verwaltungsangestellte, in öffentlichen Ämtern nach sechs Jahren einen Anspruch auf eine Übernahme in ein zeitlich unbegrenztes Angestelltenverhältnis haben. Postdocs mit zeitlich limitierten Verträgen bezahlten die Zeche.

Ein besonderes Ziel der Kritik sei bei den „Assises“ die Forschungsbewertungsagentur (Agence d’évaluation de la recherche et de l’enseignement supérieur (AERES)), gewesen, die im Jahre 2006 geründet wurde. Die Noten A bis C, die sie einzelnen Laboratorien verleihe, minderten für Forscher aus den schlechter bewerteten Einrichtungen erheblich die Chancen, Projektmittel einzuwerben und dränge sie damit in eine Abwärtsspirale des Scheiterns. Mit dieser Kritik im Ohr habe Ministerin Fioraso mit dem Hochschulgesetz aus dem Jahre 2013 die AERES zu schließen beschlossen, um sie durch einen Hohen Evaluierungsrat (Haut Conseil à l’évaluation de la recherche et de l’enseignement supérieur (HCERS) zu ersetzen. Die entsprechenden Erlasse seien jedoch noch nicht formuliert.

Zu all diesen Belastungen komme noch eine unerträgliche Bürokratisierung des Systems hinzu, wozu „Les Échos“ Beispiele zitiert.

Wenige Tage zuvor hatte die ebenfalls renommierte Zeitschrift L’EXPRESS eine Umfrage des Organs „EducPros“ aufgegriffen, die Anfang April 2014 innerhalb weniger Tage 11.000 Unterschriften enttäuschter Hochschulangehöriger zur Forderung nach wirklichen Veränderungen in der Hochschul- und Forschungspolitik gesammelt hatte. Sie werden seit Langem gefordert. In dem im Jahre 2007 erschienen Buch „Universität – die große Illusion“1 haben 14 Universitätsvertreter dargelegt, dass aus ihrer Erfahrung in Frankreich das Konzept einer Institution, die Forschung und Lehre nach den Idealen der Europäischen Universität (wie sie zum Beispiel in der Magna Charta Universitatum, Bologna 1988 niedergelegt sind) vereinigt, verloren gegangen sei. Der in Bordeaux lehrende Chemie-Professor Philippe Bopp hat dieses Werk in einer Rezension aus dem Jahre 2008 deutschen Lesern nahegebracht. Die aktuelle Entwicklung zeigt: es gärt im französischen Hochschul- und Forschungssystem; L’EXPRESS geht soweit, zu fragen, ob das französische Hochschulsystem kurz vor der Explosion stehe.

1 Université: La Grande Illusion, Sous la direction de Pierre Jourde, L'Esprit des Péninsules, Paris
2007, ISBN 978-2-84636-107-1 , 265 Seiten

Quelle: Les Échos, L'EXPRESS Redaktion: Länder / Organisationen: Frankreich Themen: Bildung und Hochschulen Förderung Grundlagenforschung

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