StartseiteLänderEuropaSchwedenSchließung von Forschungsreaktoren verändert die Forschungslandschaft für die europäische Neutronengemeinschaft

Schließung von Forschungsreaktoren verändert die Forschungslandschaft für die europäische Neutronengemeinschaft

Berichterstattung weltweit

Drei europäische Forschungsreaktoren haben im Jahr 2019 den Betrieb einstellt. Das Konsortium Europäischer Neutronenforschungseinrichtungen (LENS) und die Vereinigung der Europäischen Neutronenforscher (ENSA) warnen vor „einem Engpass an Neutronen“, der Forschungsaktivitäten in Physik, Materialwissenschaft, Chemie, Biologie, Medizin und Ingenieurwesen beeinträchtigen könnte. LENS und ENSA arbeiten daher gemeinsam an einer neuen Strategie, um Europas Führungsposition in der Neutronenforschung langfristig zu sichern.

Neutronen sind einzigartig und haben seit über einem halben Jahrhundert Einfluss auf die Sozioökonomie in Europa. Weltweit stammt die Hälfte aller wissenschaftlichen Veröffentlichungen zu Neutronen von europäischen Forschern an Universitäten und in Industriebetrieben, die an Neutronenquellen in Europa arbeiten. Neutronen geben beispielsweise Einblicke in das Innenleben von Lithium-Ionen-Batterien, decken versteckte Einzelheiten in antiken Funden auf oder erklären Mechanismen von Antibiotikaresistenzen in Bakterien. Außerdem werden Krebsgeschwüre mit Radiopharmazeutika behandelt, die mit Hilfe von Neutronen hergestellt wurden. Neutronen sind darüber hinaus wichtig für Forscher in der Industrie und im Ingenieurwesen, z. B. um effizientere Brennstoffzellen für Elektrofahrzeuge zu entwickeln oder um Spannungen bei der Fertigung von kohlenstofffreiem Stahl zu testen.

Drei europäische Forschungsreaktoren, die zentral für die jahrzehntelangen Erfolge der europäischen Neutronenforschung waren, wurden dieses Jahr stillgelegt: Orphée, genutzt vom Laboratoire Léon Brillouin (LLB) in der Nähe von Paris, BER II am Helmholtz-Zentrum in Berlin und JEEP II, betrieben vom Institute for Energy Technology am Stadtrand von Oslo. Diese Reaktoren wurden in erster Linie als nationale Anlagen betrieben, um Forscher aus Frankreich, Deutschland und Norwegen zu versorgen, aber darüber hinaus boten sie einer Vielzahl internationaler Forscher Zugang. Jede einzelne Anlage wurde aus ganz eigenen Gründen des jeweiligen nationalen Forschungsprogramms geschlossen.

Eine neue europäische Neutronenquelle, die European Spallation Source (ESS), die auf Spallation anstatt auf Reaktortechnologie basiert, ist gegenwärtig in Südschweden im Bau. Sie wird jedoch erst ab 2023 für Wissenschaftler verfügbar sein und mehrere Jahre später die volle Betriebskapazität erreichen. Mit den Schließungen verbleiben Deutschlands Forschungs-Neutronenquelle FRM II in Garching und das 50 Jahre alte Institut Laue-Langevin in Grenoble, Frankreich, als letzte große Neutronenforschungsreaktoren in ihrem jeweiligen Land.

Christiane Alba-Simionesco, frühere Direktorin des LLB und Vorsitzende von ENSA, sagt dazu:

„Die europäische Gemeinschaft von Neutronennutzern befindet sich in einer paradoxen, ja sogar schizophrenen Situation. Wir müssen die jetzige und die nächste Generation von Nutzern darauf vorbereiten, mit der ESS die zukünftig leistungsfähigste Quelle der Welt voll auszunutzen, während wir gleichzeitig stark reduzierten Zugang zu Instrumenten in Europa haben. Das könnte zu einem Engpass an Neutronen führen. Es ist schlicht Tatsache, dass weniger Forschungsanlagen, weniger Messinstrumente und weniger Betriebstage an europäischen Instituten die Größe der Nutzergemeinschaft und den wissenschaftlichen Beitrag beschränken, den diese zu gesellschaftlichen Veränderungen leisten kann. Gleichzeitig haben Neutronennutzerverbände auf der ganzen Welt deutlich gemacht, dass die Nachfrage nach Neutronenforschung sowohl von Seiten der Wissenschaft als auch der Industrie zunimmt."

Helmut Schober, Vorsitzender von LENS und Direktor der führenden Neutronenanlage Europas, dem Institut Laue-Langevin (ILL), sagt:

„Die hervorragenden Leistungen, die die europäische Neutronenforschung in den letzten 50 Jahren erbracht hat, basieren größtenteils auf dem engen Netzwerk von Anlagen, die für Wissenschaftler zur Verfügung stehen. Die drei Reaktoren, die 2019 schlossen, waren alle lebenswichtige Stützen dieses Netzwerks, besonders BER II in Berlin und Orphée in Paris, die beide umfassende internationale Gastwissenschaftlerprogramme anboten. Glücklicherweise sind wir auf diese Schließungen schon vorbereitet: Der Bau der ESS macht gute Fortschritte, während die verbleibenden wichtigen europäischen Quellen gleichzeitig stark in die Aufrüstung ihrer Kapazitäten und Leistungsfähigkeiten investiert haben. Darüber hinaus wird das LLB weiterhin aktiv in der Neutronenforschung bleiben, indem es eng mit anderen Anlagen und der zukünftigen ESS zusammenarbeitet. Solange wir uns gegenseitig unterstützen, wird Europa auf diesem Gebiet weiterhin weltweit führend sein.“

Die gemeinnützige League of advanced European Neutron Sources (LENS) will die Zusammenarbeit zwischen europäischen Neutronenforschungseinrichtungen fördern, die transnationalen Zugang für Gastwissenschaftler anbieten. Die einzelnen Mitglieder des Verbands sind unabhängig, aber sie schließen sich in LENS zusammen, um die europäische Neutronenwissenschaft durch ein effektives und kooperatives Ökosystem von Neutronenanlagen zu unterstützen und zu stärken. Alle neun Mitglieder von LENS finden sich auf der Webseite des Konsortiums.

Die European Neutron Scattering Association (ENSA) hat 7000 registrierte Mitglieder aus 21 verschiedenen Ländern. Sie sind für weltweit die Hälfte des wissenschaftlichen Outputs an Neutronenforschung verantwortlich. Zu den europäischen Ländern, die in ENSA vertreten sind, gehören Belgien, Dänemark, Deutschland, Estland, Frankreich, Griechenland, Großbritannien, Irland, Italien, die Niederlande, Norwegen, Österreich, Polen, Rumänien, Russland, Schweden, die Schweiz, Slowakei, Spanien, die Tschechische Republik und Ungarn.

Quelle: Gemeinsame Pressemitteilung des Konsortiums Europäischer Neutronenforschungseinrichtungen (LENS) via Forschungzentrum Jülich / idw Redaktion: von Andreas Ratajczak, VDI Technologiezentrum GmbH Länder / Organisationen: Belgien Dänemark Deutschland Estland Frankreich Griechenland Irland Italien Niederlande Norwegen Österreich Polen Russland Schweden Schweiz Slowakei Spanien Tschechische Republik Ungarn Vereinigtes Königreich (Großbritannien) Themen: Infrastruktur Physik. u. chem. Techn.

Weitere Informationen

Projektträger