Die französische Ministerin für Hochschulbildung, Forschung und Innovation Frédérique Vidal kündigte am 19. November 2019 beim Radiosender RTL zwei Maßnahmen an, mit denen die Regierung Studierende in prekären Lebenssituationen unterstützen will. Zudem verwies sie auf die bereits bestehenden Möglichkeiten und Regierungsprojekte in diesem Bereich.
So soll bis Ende des Jahres eine Notfallnummer speziell für Studierende eingerichtet werden. Dort sollen sie insbesondere bei finanziellen Notsituationen über ihre Möglichkeiten informiert werden und Unterstützung erhalten. Wie Vidal erläuterte, gebe es ein Budget für Notfallhilfen, das aber nicht ausgeschöpft werde: „Jedes Jahr bleiben 15 Millionen Euro übrig.“, sagte sie RTL. Und während laut der Beobachtungsstelle für Studienbedingungen OVE etwa fünf Prozent aller Studierenden bzw. 125.000 Personen unter prekären Bedingungen studierten, nähmen nur 50.000 Studierende die Notfallhilfen in Anspruch.
Weiterhin kündigte Vidal an, dass künftig auch für die Wohnheime der Studentenwerke die sogenannte „Winterpause“ gelten soll, die Mieter auch bei ausstehenden Mietzahlungen zwischen dem 1. November und 31. März vor einer Kündigung schützt. Bisher war dies nicht der Fall, da die Wohnheime aus öffentlichen Geldern finanziert werden. Wie viele Studierende davon bisher betroffen waren, ist nicht bekannt. Die größte studentische Gewerkschaft FAGE (Fédération des associations générales étudiantes) spricht von „einigen Fällen“. Die Studentenwerke verfügen frankreichweit über 165.000 Betten, das entspricht einem Platz für etwa jeden 15. Studierenden. Vidal nannte auch das Regierungsprojekt, 60.000 neue Wohnheimplätze zu schaffen, dieses befinde sich „auf dem Weg“. Die steigenden Mieten vor allem in den Großstädten sind auch für Studierende in Frankreich ein zunehmendes Problem. Sie haben hierbei wie alle in Frankreich Wohnenden zwar Anspruch auf das Wohngeld, das 175 Euro (Region Île-de-France) oder 145 Euro (alle anderen Regionen) beträgt. Dieses reicht jedoch in der Regel bei Weitem nicht aus und wurde von der Regierung zudem kürzlich um fünf Euro gekürzt.
Vidal sprach sich im Interview mit RTL hingegen deutlich gegen eine von den studentischen Gewerkschaften geforderte Erhöhung der Studienbeihilfe aus. Diese liegt aktuell bei 1.020 Euro bis maximal 5.612 Euro für zehn Monate im Jahr (die Semesterpause im Sommer ist ausgenommen) und damit im Höchstfall bei 561 Euro pro Monat. 712.000 der 2,7 Millionen Studierenden erhalten eine solche Studienbeihilfe auf Grundlage des elterlichen Einkommens, Anzahl der Geschwister etc. – davon ein Drittel den niedrigsten Betrag. Entsprechend müssten alle anderen von ihren Eltern finanziell unterstützt werden können. Laut der OVE muss aber über die Hälfte der Studierenden in Frankreich neben dem Studium arbeiten und drei Viertel tun dies in der Semesterpause über den Sommer. Vidal wies darauf hin dass zum Wintersemester 2019/20 die Beihilfen bereits um 1,1 Prozent bzw. 46 Millionen Euro erhöht worden seien und die Regierung insgesamt 5,7 Milliarden Euro in Studienbeihilfen investiere.
Zudem erläuterte Vidal, dass die Regierung daran arbeite, Studierende in das geplante „Grunderwerbseinkommen“ (Revenu universel d'activité) zu integrieren. Das Grunderwerbseinkommen ist ein Wahlversprechen von Staatspräsident Emmanuel Macron und soll verschiedene Sozialleistungen wie etwa die Sozialhilfe und Wohngeld ersetzen. Die Sozialhilfe kann bisher erst ab 25 Jahren beantragt werden.
Hintergrund
Am 8. November 2019 setzte sich ein Studierender in Lyon vor dem örtlichen Studentenwerk in Brand. Er tat dies laut seines Abschiedsbriefs, um auf die soziale Unsicherheit von französischen Studierenden aufmerksam zu machen. An mehreren Universitäten in Frankreich kommt es seitdem zu Protesten, Hörsaalblockaden und Verwüstungen von universitären Verwaltungsgebäuden. Die Präsidentin der betroffenen Universität Lyon 2 Nathalie Dompnier sagte gegenüber der Tageszeitung Le Monde, es fehlten Statistiken aber es gebe zahlreiche Indizien im Alltag, die von einer zunehmenden Zahl von Studierenden in Armut zeugten: „Studierende sind obdachlos, in schlechtem gesundheitlichen Zustand, sie haben keine Ressourcen um anständig zu leben; (…) Wir haben auch Studierende, die hungern.“ Premierminister Edouard Philippe äußerte sich in der Nationalversammlung am 19. November 2019 zu dem Thema und erkannte die studentische Armut an, diese könne jedoch „keinesfalls gewaltsame Reaktionen rechtfertigen“.
Zum Nachlesen (Französisch)
- Le Dauphiné (13.11.19): Logement, bourses, travail : comprendre la précarité étudiante
- Le Figaro (19.11.19): Philippe reconnaît la précarité étudiante mais condamne les violences
- Le Monde (12.11.19): Immolation à Lyon : étudiants et enseignants sous le choc
- Libération (19.11.19): Etudiants : les mesurettes du gouvernement
- étudiant.gouv.fr (02.09.16): Les bourses sur critères sociaux